Interview mit François Bausch im Luxemburger Wort

"Wir brauchen eine Mobilitätsrevolution"

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Luxemburger Wort: François Bausch, wie fällt Ihre persönliche Bilanz nach einem Jahr Pandemie aus?

François Bausch: Es ergeht mir nicht anders als allen anderen Bürgern auch. Ichverspüre eine gewisse Müdigkeit. Mich stört vor allem, dass der Staat, der eigentlich die Freiheitendes Einzelnen garantieren soll, die Grundrechte der Menschen einschränken muss.

Luxemburger Wort: Hätten Sie im Rückblick etwas anders gemacht, würden Sie heute andere Entscheidungentreffen?

François Bausch: In der ersten Phase gab es keine Alternative. Wir wussten nichts über das Virus, wir wussten nicht einmal ansatzweise, was auf uns zukommen würde. Daher mussten wir das Landschnell herunterfahren. Im Rückblick stört mich allerdings, dass unser Umgang mit der Pandemie nicht ins 21. Jahrhundert passt. Das gilt nicht nur für Luxemburg, das gilt eigentlich für die ganze Welt. Die Methoden, auf die wir zurückgreifen, stammen ursprünglich noch aus dem Mittelalter. Wir verfügen heute aber über ein viel besseres Wissen, wir haben digitale Möglichkeiten... Nach der ersten Phase hätten wir daher filigraner vorgehen müssen. Es kann nicht unser Ziel sein, das öffentliche Leben dauerhaft herunterzufahren. Die Kollateralschäden sind enorm, ichfürchte, hier wird die Bilanz wenig erfreulich ausfallen. Wir müssen uns besser vorbereiten, das ist die Lehre, die wir aus der Pandemie ziehen müssen.

Luxemburger Wort: Was meinen Sie mit filigraner?

François Bausch: Wir hätten uns stärker auf den Schutz der vulnerablen Menschenkonzentrieren müssen, anstatt mit der großen Kanone zu schießen und die Rechte der gesamten Bevölkerung zu beschneiden. Ich weiß sehr gut, dass das einfacher gesagt als getan ist. Doch wir müssen am Ende selbstkritisch Bilanz ziehen.

Luxemburger Wort: Die Covid-Gesetze müssen stets in aller Eile durch die Instanzen. Kann das Parlament er a t n einer Kontrollfunktion gerecht werden? Säßen die Grünen noch in der Opposition, die Kritik wäre unüberhörbar...

François Bausch: Die Regierung ist sich bewusst, dass die Situation alles andere als ideal ist. Doch wir stehen konstant unter Druck, wir müssen die Entscheidungen so lange wie möglich hinausschieben, um adäquat auf die neusten Entwicklungen reagieren zu können. Ich weiß heute noch nicht, wie sich die Situation bis zum 2. April entwickeln wird. Also kann ich auch nicht sagen, was wir tun werden, wenn das Gesetz in zwei Wochen ausläuft. Eigentlich müssten die Gesetze noch schneller verabschiedet werden, aber das ist nicht machbar. Ich war lange Abgeordneter und habe großen Respekt vor dem Parlament. Gerade in Krisenzeiten müsste das Parlament eigentlich eine größere Distanz zu den Texten haben. Allerdings müsste es auch bereit sein, diese Rolle auszufüllen. Meiner Einschätzung nach, werden die Debatten im Moment zu polemisch geführt. Sicher, die Entscheidungen der Regierung müssen kritisch hinterfragt werden. Doch ich würde mir eine konstruktivere Kritik wünschen. Die Kritik darf hart sein, es sollte aber nicht vorrangig darum gehen, der Regierung ein Bein zu stellen. Wir befinden uns in einer Situation, in der weder parteipolitisch noch wahltaktische Überlegungen eine Rolle spielen dürfen. Es mussvorrangig darum gehen, das Land aus der Krise herauszuführen.

Luxemburger Wort: Sie würden sich wünschen, dass die Regierung noch schneller handeln könnte. Zu Beginn der Pandemie war darüber nachgedacht worden, auf Basis des Santé-Gesetzes von 1980 zu handeln. Wäre dies nicht doch der bessere Weg gewesen?

François Bausch: Nein, das Gesetz weist zu viele Defizite auf. Es entspricht nicht den aktuellen Anforderungen. Die Situation wäre eine völlig andere, wenn wir ein Pandemiegesetz hätten, das den nötigen rechtsstaatlichen Schutz garantiert. Nun mag man einwenden, dass ein solcher Text mittlerweile vorliegen könnte. Doch es braucht sehr viel Zeit, um ein richtig gutes Pandemiegesetz auszuarbeiten, Zeit, über die wir leider nicht verfügen.

Luxemburger Wort: Sie sind seit etwa 15 Monaten Vizepremier. Was hat sich durch die neue Aufgabe für Sie persönlich geändert?

François Bausch: Als Vizepremier bin ich zusammen mit Premier Bettel und Vizepremier Kersch für die Koordinierung der Regierung zuständig. In Krisenzeiten ist dies eine besondere Herausforderung. Wir stehen konstant in Kontakt, wir telefonieren mehrmals täglich odersprechen uns in Videokonferenzen ab. Wir stehen permanentunter Druck, und dies vor einem Hintergrund, den ich eigentlich gar nicht mag. Wenn man mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert ist, weiß man, auf welche Instrumente man zurückgreifen kann. In einer sanitären Krise ist es ganz anders. Wir haben eine Reihe von Instrumenten, doch auch nach einem Jahr gibt es kein Patentrezept. Wir haben nur die Impfungen. Mich beunruhigt, dass wir über keinen Plan B verfügen, das gilt nicht nur für Luxemburg. Stellen Sie sich vor, es gäbe noch keinen Impfstoff, oder schlimmer, die Vakzine würden irgendwann nicht mehr funktionieren. Wir können nicht jahrelang im Lockdown verharren.

Luxemburger Wort: In den Umfragewerten hat Ihre Partei zuletzt an Zustimmung verloren. Liegt es nur an der Pandemie, oder sehen Sie noch andere Gründe?

François Bausch: Die Einbußen der Grünen sind sicherlich der Pandemie geschuldet, aber nicht nur. Es gibt auch hausgemachte Probleme, etwa die Differdinger Krise und die damit einhergehende Kommunikation. Die Umfragewerte machen mir im Moment aber wenig Kopfzerbrechen, mitten in der Pandemie ist es definitiv nicht meine Hauptsorge, wie die Grünen in den Umfragen abschneiden. Nicht nur die Pandemie, auch die Legislaturperiode ist ein Marathonlauf. In einer Legislatur bringt es nichts, in den ersten Monaten los zu sprinten, sonst geht einem nach der Hälfte der Strecke die Puste aus. Die großen Vorhaben brauchen Zeit. Auch wenn sie pandemiebedingt weniger im Scheinwerferlicht stehen, haben die grünen Minister viel aufzuweisen. Der Premier und die Gesundheitsministerin stehen zwar im Mittelpunkt, doch auch die anderen Regierungsmitglieder sind im Dauereinsatz. Bei der Umsetzung der einzelnen Maßnahmen sind alle Ministerien gefragt. Das Kollektiv muss funktionieren, sonst bekommen wir die Pandemie nicht in den Griff.

Luxemburger Wort: Welche Projekte der grünen Minister meinen Sie konkret?

François Bausch: Landesplanungsminister Claude Turmes hat kürzlich die sektoriellen Leitpläne fertiggestellt. Henri Kox arbeitet im Bereich Wohnungsbau an allen Fronten. Natürlich sieht man noch keine konkreten Resultate, die Maßnahmenbrauchen Zeit, bis sie richtig greifen. Sam Tanson ist als Justizministerin stark gefordert, wenn es um die Gesetzestexte im Zusammenhang mit der Pandemie geht. Gleichzeitig treibt sie die Justizreform weiter voran. Was meine eigenen Ressorts anbelangt, sticht natürlich die Tram hervor. Trotz der Pandemie konnte der schwierigste Streckenabschnitt mittendurch die Hauptstadt fristgerecht und ohne das Budget zu sprengen, fertiggestellt werden.

Luxemburger Wort: Sie sagen, die Regierung muss als Kollektiv handeln. Ist das überhaupt möglich? Das Kabinett tagt seit Monaten fast ausschließlich über Videokonferenzen...

François Bausch: Das ist definitiv nicht ideal. Ich hoffe, dass die Kabinettssitzungen möglichst schnell wieder unternormalen Bedingungen stattfinden können, denn durch die Videokonferenzen kommt es zu unnützen Spannungen, die nicht entstehen würden, wenn wir uns persönlich gegenübersitzen würden. Wenn man beisammensitzt, kann man rasch etwas mit einem Kollegen klären, dann ist es vom Tisch. All das geht aber im Moment nicht.

Luxemburger Wort: Sie verweisen auf unnütze Spannungen, worum geht es?

François Bausch: Wir stehen alle extrem unter Druck. Dann reicht es manchmal, wenn einer etwas falsch versteht. Die Stimmung wird schneller gereizt. In einer Videokonferenzkommt einfach alles anders herüber. Wenn man physisch nebeneinander sitzt, kann man nachhaken und das Ganze sofort klären. Die Regierungsmannschaft funktioniert trotzdem gut. Es ist aber normal, dass es Divergenzen gibt. Es sind drei verschiedenen Parteien und 17 verschiedene Charaktere. In einer Familie gibt es auch hin und wieder Auseinandersetzungen.

Luxemburger Wort: Eine gereizte Stimmung ist auch in der Bevölkerung spürbar, wenn es um die Umweltauflagen geht. Die Akzeptanz schwindet...

François Bausch: Die Pandemie zeigt uns, wie fragil unsere Gesellschaft ist. Das bedeutet, wir müssen insgesamt resilienter werden. Im Kampfgegen die Pandemie gibt es einen Impfstoff, der das Problem hoffentlich lösen wird. Gegen den Klimawandel gibt es keinen Impfstoff. Wir sind auf das Ökosystem angewiesen, wenn es dauerhaftbeschädigt wird, haben wir keine Chance. Dann nutzen uns auch unsere technischen Errungenschaften nicht viel. Prävention ist beim Klima- und beim Artenschutz extrem wichtig. Allerdings darf dies nicht zur Beliebigkeit führen. Was ich damit sagen will, ist, dass die Gesetze nicht so vage sein dürfen, dass jeder alles hineininterpretieren darf. Wir brauchen Rechtssicherheit, sonst verlieren wir die Akzeptanz. Umweltministerin Carole Dieschbourg ist dabei, die Prozeduren zu beschleunigen und für mehr Rechtssicherheit zu sorgen. Im Moment gibt es hier Schwachstellen. Ich habe daher Verständnis, wenn sich die Leute aufregen. Die Auflagen müssen so formuliert werden, dass beispielsweise Bauherren von Anfang genau wissen, was auf sie zukommt. Die Gesetzgebung muss eindeutig sein.

Luxemburger Wort: Der Klimaschutz wurde durch die Pandemie in den Hintergrund gedrängt. Ging dadurch nicht wertvolle Zeit verloren?

François Bausch: Beim Klimaschutz zählt jede Sekunde. Ich bin überzeugt, dass das Thema nach dem Ende der Pandemie mit 100 km/h zurückkommen wird. Ende des Jahresfindet in Glasgow die COP 26statt. Dort werden die zentralen Bereiche, in denen wir am schnellsten handeln müssen, auf der Tagesordnung stehen. Das wichtigste Thema ist die Mobilitätspolitik. Wir müssen unser gesamtes Mobilitätssystem ändern. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Die Frage der Mobilitätwird in den kommenden 15 bis 20Jahren eines der wichtigsten Arbeitsfelder überhaupt sein. Länder, die den Wechsel am schnellsten hinkriegen, werden am Ende die Gewinner sein. Deshalb sind die Investitionen in die Mobilität auch so wichtig. In der Regierung herrscht Einigkeit, dass es hier unter keinen Umständen zu Einschnitten kommen darf. Wir brauchen nichts mehr und nichts weniger als eine Mobilitätsrevolution. Weitere Schwerpunkte werden die Städteplanung und der Wohnungsbau sein. Auch hiermüssen wir total umdenken. Der Klimaschutz wird nach dem Ende der Pandemie schnell wieder ganz oben auf der Agenda stehen, da bin ich mir sicher. Ich mache mir allerdings Sorgen wegen des kurzen Zeitfensters, das uns zur Verfügung steht.

Luxemburger Wort: Morgen findet der Parteikongress von Déi Gréng statt, zum zweiten Mal in digitaler Form. Wie halten Sie eigentlich Kontakt zur Basis, wenn Sie ein Jahr lang keine Parteiversammlungen abhalten können?

François Bausch: Es ist nicht einfach. Ich hätte meine Rede lieber vor einem vollen Saal gehalten, als in eine Kamera hinein zu reden. Mir fehlt der Kontakt mit den Menschen. Mir fehlen auch die Bürgerversammlungen. Ich habe einige Versammlungen in digitaler Form abgehalten. Der Zuspruch war zwar groß, aber digitale Versammlungen können den Kontakt mit dem Menschen nicht ersetzen. Ich vermisse den direkten Draht zu den Leuten. Das fehlt auch parteiintern. Die Grünen sind eine Partei, die vom Kontakt mit der Basis und mit der Bevölkerung lebt. Glücklicherweise ist uns die Verjüngung der Partei sehr gut gelungen. Unsere beiden jungen Parteipräsidenten Djuna Bernard und Meris Sehovic haben trotz Pandemiesämtliche Lokalsektionen besucht, um den Kontakt mit der Basis zuhalten. Das ist enorm wichtig.

Luxemburger Wort: Sie haben vor einer Weile angekündigt, dass dies Ihre letzte Legislatur als Minister sein wird. Was sind Ihre Pläne für die Zeit nach den Wahlen von 2023?

François Bausch: Das weiß ich noch nicht. Sicher ist nur, dass ich noch einmal beiden Wahlen kandidieren werden. Sollte ich gewählt werden, werde ich mein Mandat als Abgeordneter auch antreten. Bei Wahlen wird schließlich ein Parlament und nicht eine Regierung gewählt. Ich bleibe aber bei meiner Überzeugung, zehn Jahre als Ministersind genug.

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