"Die Systemfrage stellt sich nicht". Le ministre du Développement durable et des Infrastructures, Claude Wiseler, au sujet du Plan national pour un développement durable.

forum: Der Entwurf des PNDD (Plan national pour un developpement durable) zeichnet ein recht düsteres Bild von der Situation des Landes. Stimmen Sie mit den Analysen in diesem Text überein?

Claude Wiseler: Nach den Wahlen haben Marco Schank und ich das Vorprojekt des PNDD in dieser Form vorgefunden und dann entschieden, es auch so auf den Weg zu bringen. Ich teile mit diesem Dokument die Formulierung der Problemstellungen, es werden viele Fragen aufgeworfen, die zu denken geben. Ich bin nur manchmal nuancierter bei den Schlussfolgerungen, weil wir in verschiedenen Bereichen doch weit mehr erreicht haben, als hier beschrieben wird.

forum: Welche Punkte bei dieser Auflistung nichtnachhaltiger Tendenzen geben Ihnen am meisten zu denken?

C. W: Man fühlt sich natürlich von den Themen angesprochen, mit denen man sich schon länger intensiv beschäftigt hat, für mich sind das zum Beispiel die Mobilitätsfragen. Die Probleme in diesem Bereich sind im PNDD-Entwurf auf einer Seite so zusammengefasst, dass sie messerscharf hervorstechen und dann tun sie noch mehr weh. Neben der Mobilitätsproblematik sind das für mich auch alle Fragen betreffend Integration und soziale Kohärenz, nicht-luxemburgische Mitbürger und damit insbesondere auch das Schulsystem, welches gut in der Vorlage behandelt wurde und wo die Lösungen trotzdem relativ allgemein gehalten werden.
Marco Schank und ich haben uns die Themen nach Interessen aufgeteilt. Er kümmert sich etwa um Biodiversität und alles, was mit Natur- und Tierschutz zu tun hat. Diese Fragen kann ich zwar nachvollziehen, aber da Marco Schank in dem Bereich die meiste Erfahrung hat, spürt er besser in jedem Satz, wie tiefgreifend die Problematik tatsächlich ist. Deswegen bin ich froh über unsere Komplementarität.

forum : In fast jeder Gemeinde steht heute ein Kulturzentrum, aber wir haben immer noch nicht überall Kläranlagen. Wir haben vielleicht die teuersten 15 km Autobahn der Welt, aber wir haben es immer noch nicht geschafft, die Tram zu bauen. Wie ist es zu erklären, dass wir nach einer solch spektakulären Wachstumsphase nicht besser dastehen?

C. W: Mein Eindruck ist nicht so negativ, da ich mir sage, dass wir uns als Land neben den Problemen auch eine Menge an positiven Dingen und Chancen erwirtschaftet haben. Der PNDD ist natürlich eine Auflistung von Herausforderungen für die Zukunft, auf die wir aufpassen und die wir meistern müssen. Es ging ja auch nicht allein darum, die positiven Seiten von Luxemburg darzustellen, sondern vor allem die Probleme, deren Lösungen zu einer nachhaltigeren Entwicklung führen sollen. Aber wir haben es doch andererseits fertiggebracht, bei einem hohen Prozentsatz an hier wohnhaften Nicht-Luxemburgern keine grö-ßeren Probleme mit Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus zu haben. Ich kenne die Anfälligkeit dieses Gleichgewichts und die Gefahren, die noch lauern, und sicherlich gibt es Konfrontationspotential. Wir sind bislang jedoch gut gefahren durch unsere Art und Weise, Konflikte zu lösen - durch die Tripartitc, um nur ein Beispiel zu nennen -, dadurch, dass wir andauernd und immer wieder miteinander sprechen. Wir haben eine politisch-soziale Tradition, die sonst kein anderes Land um uns herum hat. Wenn Luxemburg in Gefahr ist, ist man sich parteiübergreifend schnell einig und es wird nicht lange diskutiert. Dann wird man auch als Politiker, wenn man versucht im Dienst für das Land zu handeln, nicht kritisiert. Dann besteht ein Zusammenhalt, wie ich ihn kaum je in einer anderen politischen Gesellschaft gesehen habe.
Zurzeit befinden wir uns in einer schlimmen Krisensituation, wir haben uns aber durch unsere Finanzpolitik der letzten Jahre einen Handlungsspielraum geschaffen, der uns in dieser Lage hilft. Ich sehe den Ist-Zustand daher nicht so negativ, ich sehe aber die riesigen Gefahren, die auf uns zukommen, und die auch dadurch kommen, dass wir geographisch und demographisch so aufgestellt sind wie wir sind.

forum : Die letzten 15 Jahre legen den Verdacht nahe, dass man bei einem hohen Wirtschaftswachstum, wie Luxemburg es erlebt hat, eigentlich keine vernünftige Politik machen kann, da das Tempo der Entwicklung die Entscheidungsträger und Verwaltungen überfordert.

C. W: Man hat tatsächlich ein reales Problem, wenn man über hohe Einnahmen verfügt. Dann wird viel erwartet und man kann praktisch alle Wünsche erfüllen. Jetzt befinden wir uns in einer anderen Situation, in der wir wieder Entscheidungen für oder gegen ein Projekt treffen müssen. Bei den öffentlichen Bauten muss ich beispielsweise klar und deutlich erklären, warum ein Gebäude gebaut wird und ein anderes nicht. Es stimmt aber auch, dass wir auf infrastrukturellem und organisatorischem Plan teilweise hinterher gehinkt sind: Ausbau des öffentlichen Transports, von Straßen, Altersheimen, Schulen, Krankenhäusern, ... Wir sind mit den Investitionen nicht nachgekommen und wir hatten auch noch nicht definitiv die Landesplanung, mit der man genau wüsste, was wohin kommt. Das wurde aber relativ früh, zu Michel Wolters Zeiten bereits, erkannt und ein Instrument bereitgestellt oder zumindest eine Reflexion eingeleitet, wie wir uns organisieren könnten. Wir werden jetzt den Text von 1999 über die Landesplanung nochmals überarbeiten, um uns Prozeduren und verpflichtende Mittel zu geben, damit wir handeln können und die Entwicklung im Griff behalten.
Bei manchen Dossiers, bei denen wir viel Zeit verloren haben, wie beim öffentlichen Transport oder bei der Tram, kann ich Ihre Skepsis teilen. In anderen Dossiers haben wir aber davon profitiert, dass die Zeiten eine gewisse Großzügigkeit erlaubt haben. Ich denke da etwa an die beiden Kulturjahre, an Philharmonie, Rockhai oder Mudam, die zur Entwicklung unserer Gesellschaft und zu unserem Ansehen im Ausland positiv beitragen.

forum : Der Rückstand bei der Errichtung von Kläranlagen ist besonders auffallend.

C. W: Dieses Dossier kenne ich nicht genügend, um eine fundierte Antwort zu geben, da es in den Kompetenzbereich des Innenministers fällt. Ich weiß aber, dass rund 95% der Bevölkerung an eine kommunale Kläranlage angebunden ist. Der Neubau von Kläranlagen in den kommenden Jahren wird die Situation noch verbessern. Aber wir haben ein generelles Problem: Wir sind ein Land, das alles haben möchte, aber nichts vor der eigenen Haustür. Die Mitsprache- und Rekursrechte, deren Notwendigkeit ich nicht in Frage stellen möchte, machen es manchmal schwierig, die Projekte, die man für die Allgemeinheit braucht, umzusetzen.
Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion um die Adolf-Brücke. Sie muss unabhängig von der Tram renoviert werden. Ich kann es mir aber nicht erlauben, sie mehrere Jahre komplett zu schließen. Bei Schulen ist es genauso. Wenn ich ein Gymnasium baue, dann hagelt es jedes Mal Proteste. Ich nehme an, dass es bei den Kläranlagen ähnliche Probleme gab. Zum einen muss ich also für die Allgemeinheit Infrastrukturen aufbauen, inklusive öffentlicher Transport, Kläranlagen, Gefängnis, zum anderen gibt es Mitspracherechte, die je nachdem wie sie organisiert sind, ein Dossier, das für unsere Gesellschaft wesentlich ist, jahrelang blockieren können. Ich möchte ein Gleichgewicht herstellen zwischen den Mitspracherechten einerseits und dem, was man als öffentliche Hand in halbwegs vernünftigen Fristen umgesetzt bekommt.

forum: Welche politischen Lehren kann der Nachhaltigkeitsminister aus dem ziehen, was vor zwei Jahren im Zusammenhang mit der Autosteuer geschehen istt

C. W: Ich habe viel mit Lucien Lux über die Autosteuer gesprochen. Diese Frage hat ihn geplagt und mich notgedrungen beschäftigt, denn wenn wir einen Plan national d'action pour le climat machen wollen, werden sich die selben Fragen auch für Marco Schank und für mich stellen.
Meiner Meinung nach waren in diesem Dossier zwei Dinge problematisch. Zum Ersten wurde das Gesetz nicht gut ausgeführt und das hat die Leute aufgebracht. Der zweite Aspekt, und ich möchte Lucien Lux sicher dabei keinen Vorwurf machen, ist wahrscheinlich, dass eine einzelne Maßnahme präsentiert wurde: Die Leute haben den Grund für die Erhöhung dieser Steuer gar nicht richtig verstanden. Haben wir finanzielle Schwierigkeiten? Was ist das überhaupt CO2 und wie viel stößt mein Auto aus? Die Leute haben die Verbindung nicht hergestellt zwischen dem, was der Politiker Lucien Lux absolut richtigerweise erreichen wollte, und der Maßnahme, die er ergriff. Deswegen werden wir zwei Dinge berücksichtigen, wenn wir an diese Sachen herangehen: Der plan d'action muss ein ganzes Maßnahmenpaket enthalten und jede Maßnahme muss intensiv und öffentlich diskutiert werden, damit die Menschen verstehen, um was es geht. Wir müssen erklären, dass die Zielsetzung, die jeder für richtig empfindet, und die Maßnahmen, die wir ergreifen, um sie zu erreichen, etwas miteinander zu tun haben. Das hat, glaube ich, bei der Autosteuer gefehlt, sie wurde nicht in den Kontext gestellt. Ich will aber klar und deutlich sagen, dass ich die Maßnahme für richtig halte, die Lucien Lux damals eingeführt hat.

forum : Wenn ich Sie richtig verstehe, wird die Klimaproblematik in Zukunft ministerien-übergreifend angegangen.

C. W: Absolut! - mit Jeannot Krecke, Romain Schneider, Marie-Josee Jacobs, Franchise Hetto, Luc Frieden usw. Zusammen mit Marco Schank haben wir viele Politikbereiche in der eigenen Kompetenz, gemeinsam können wir viel unternehmen. Aber ich brauche auch die anderen Ministerien. Wir werden sicherlich im Januar/Februar eine Arbeitsgruppe zu alternativen Energien bilden. Dort werden wir untersuchen, was wir mit Biomasse, Wind-, Wasserund Sonnenenergie erreichen können. Hier müssen Jeannot Krecke und seine Leute mit dabei sein, sie müssen in diesem Bereich sogar federführend sein. Ich möchte niemandem etwas wegnehmen, im Gegenteil, ich möchte, dass alle bei diesen Planungen mitwirken.

forum : In unseren Nachbarländern wird vermehrt über CO 2 -Steuern gesprochen. Ist das ein Weg, der uns in naher Zukunft auch bevorsteht?

C. W : Es ist ja nicht so, als ob ökologische Steuern für Luxemburg ein völlig neues Thema wären. Wir haben schließlich einen Kyoto-Cent eingeführt. Was ist das anderes als eine CO 2 -Steuer? Der Unterschied zwischen der französischen taxe carbone und dem Kyoto-Cent ist nur, dass die taxe carbone auf fast allen Energieprodukten erhoben werden sollte und der Kyoto-Cent in Luxemburg nur auf Diesel und Benzin anfällt. Im Regierungsprogramm ist darüberhinaus angekündigt, dass über die Höhe des Kyoto-Cents noch einmal nachgedacht werden soll. Ich würde dies aber gerne im Rahmen eines Gesamtkonzeptes machen. Welche finanziellen Mittel brauchen wir£ Wie bewegt sich die ganze Situation um uns herum? Wir wissen ja, was am Tanktourismus alles dranhängt. Das ist eine Diskussion, die man nicht ignorieren kann und die ich auch nicht ausschließen möchte. Alles das sind Gedanken, die mit in den Aktionsplan hineingehören und der Aktionsplan ist auch eine Sache der Finanzierung. Im Rahmen des Aktionsplanes müssen solche Überlegungen also ohne Scheuklappen diskutiert werden, und dafür brauchen wir auch den Finanzminister.

forum : Stellt eine ernstgemeinte Politik der Nachhaltigkeit nicht letztlich das Wirtschaftssystem in Frage?

C. W: Ich denke nicht, dass sich die Systemfrage stellt. Nachhaltigkeit stellt jedoch einen Teil unserer alltäglichen Gewohnheiten und eine Reihe unserer Reflexe der letzten 10, 15 Jahre in Frage. Ich bin kein Wachstumsfetischist, aber ich halte es für politisch ausgeschlossen, wirtschaftliche Entwicklung voluntaristisch negativ zu gestalten. Meiner Ansicht nach brauchen wir Wachstum in unserer Gesellschaft, nur müssen wir diese so gestalten, dass sie besser unseren Zielsetzungen dient. Wir können entscheiden, welche Art von Unternehmen wir anziehen wollen, welche Cluster wir hier aufbauen wollen, wie wir Mobilität gestalten wollen usw. - all das liegt in unserer Hand.

forum : Insbesondere vor dem Hintergrund der Klimakrise ist Wachstum in Verruf geraten.

C. W: Wenn die Klimakrise etwas Gutes hätte, dann dass sie all unser Können und Denken darauf konzentriert, von der fossilen Energie wegzukommen. Wir suchen andere Energiequellen, müssen über alternative Energien nachdenken und Energie sparen. Ich glaube nicht, dass dies etwas Negatives oder Wachstumshemmendes ist. Im Gegenteil, ich glaube, dass wenn man hier investiert, sogar ein wirtschaftliches Wachstum möglich ist. Schließlich bin ich der Meinung, dass es ökonomisch absolut sinnvoll ist, wenn man im Bereich der Energieversorgung eine größere Unabhängigkeit anstrebt.

forum : Viele Ziele, die im PNDD beschrieben werden, reichen über die nächsten fünf Jahre hinaus. Wie sehen Sie die Möglichkeiten unseres demokratischen Regierungssystems, auf langfristige Herausforderungen eine angemessene Antwort zu finden?

C. W: Ich sehe keine Alternative zu unserem politischen System. Diese Form von Demokratie, der direkte Kontakt mit den Menschen, der durch unser Wahlsystem bedingt ist, in dem die Leute die Kandidaten kennen müssen - das ist sehr Zeit raubend und menschlich nicht immer einfach, aber für mich das Fundament, um Politik in Luxemburg zu machen.
Unsere Politiker werden manchmal so dargestellt, als würden sie nur an die nächsten Wahlen denken. Sie denken natürlich auch an die nächsten Wahlen, aber nicht allein. Wir sind uns alle bewusst, dass wir mittel- und langfristige Ziele anstreben müssen.
Daneben leben wir aber unter den Bedingungen einer Mediengesellschaft, in der auch auf den kurzfristigen Effekt gesetzt wird. Als Politiker muss ich lernen, mit diesen Bedingungen umzugehen. Wir werden also im Laufe des Jahres 2010 unser Programm mit Debatten, manchmal auch medienträchtigen Aktionen in der Öffentlichkeit vermitteln. Wir werden die Mittel nutzen, die uns zur Verfügung stehen, Pressekonferenzen organisieren und die Presse wird auch kommen. Ich muss auch die kurzfristige Perspektive im Auge behalten, um die Menschen zu überzeugen und längerfristige Ideen durchzusetzen.

forum : Herr Wiseler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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